50 Jahre SPD Icking: Blick zurück nach vorn
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dem Schaukasten 102: 50 Jahre SPD Icking

Am 15. November 1970 wurde die SPD Icking gegründet. Ringsherum war, bis auf München, die CSU an der Macht. Und trotzdem hat sich der neue Ortsverein gut behauptet und in all den Jahren so seine verschiedenen Duftmarken gesetzt.

Hier erinnern sich die Genossen der ersten Stunde, nämlich Gerhard Jakobi (Gründungsmitglied), Alfred von Hofacker (seit 1971), Karin Siebert und Konny Sedlmeyer (beide seit 1972). Ebenso dabei zwei Vertreter der neuen Generation, die sich für ihre politischen Wurzeln interessieren, nämlich Beatrice Wagner und Julian Chucholowski, die beiden Ortsvorsitzenden (zur Zeit des Interviews im November 2020). Und da man sich bei der SPD duzt, präsentieren wir Ihnen unsere Runde auch diesbezüglich recht authentisch.

Bea: Vielen Dank für euer Kommen. Im Jahr 1970 wurde die SPD Icking gegründet. Ringsherum war, bis auf München, die CSU an der Macht. Welch tollkühner Mut hat euch damals geritten?  

Gerd: Bayern war schwarz, aber bundesweit sah es anders aus. Willy Brandt war seit 1969 Regierungschef. Er stand für einen Wandel in der Außenpolitik, der Warschauer Kniefall war ein Symbol für den Neubeginn in der Ostpolitik. Brandt stand auch für einen Wandel im Umweltbewusstsein. Als ich 1963 in Duisburg in die SPD eingetreten bin, hatte er zuvor, 1961, die Vision vom „blauen Himmel über der Ruhr“ entworfen. Das war fast unvorstellbar, der Himmel war dort grau und die Stahlwerke bliesen ihren Dreck ungefiltert in die Luft. Aber es war eine Aufbruchstimmung, das ging vielen Menschen so, und auch mir, als ich 1969 nach Icking zog.

Julian: Und wie kam es dann zur Gründung?

Gerd: Wir hatten uns bis 1970 als SPDler mit den Schäftlarner Genossen im Café Schneider getroffen, bis Fritz Schoppe meinte, „so geht das nicht, Icking braucht eine eigene SPD-Basisstation.“

Diese sollte am 15.11.1970 in der Alten Post, dem heutigen Gasthof Klostermaier gegründet werden. Es waren an diesem Tag jedoch nur fünf Genossinnen und Genossen anwesend, wir hatten zudem eine weitere Vollmacht, doch trotzdem brauchten wir sieben. Es gelang uns, den damaligen Wirt zum Eintritt zu bewegen und mit seiner Unterschrift gelang der große Schritt.

Die Alte Post 1970 (heute Gasthof Klostermaier)

Icking hatte jetzt einen Ortsverein der großen deutschen ‚roten Volkspartei‘. Mir war klar, dass unser neuer OV auf der grünen Wiese gelandet war. Wir konnten auf keine Vorerfahrung zurückgreifen und fingen sozusagen im Urschleim an, unwissend, was uns hier menschlich erwarten würde.

Auf dem SPD-Parteitag, 1984
v.l.n.r.: Willy Brandt, Philipp Kreißlmeier, Günther Jauch (mit Mikro), Gerd Jakobi © Archiv SPD Icking

Bea: Alfred, als nächster aus unserer Runde kamst du im Jahr 1971 dazu. Was war denn deine Motivation?

Alfred: Ich begann mich für Politik zu interessieren, doch die Entscheidung für eine Partei war noch offen. Der Ortsvorsitzende der CSU, Dr. Ruhland, lud mich mit den Worten ein: „Wenn Sie Mitglied werden, kann ich Ihnen ein Treffen mit Franz Josef Strauß vermitteln“. Das war so plump und hat mir nur ein müdes Lächeln entlockt. Dann schrieb mir sehr höflich und wohltuend bescheiden Fritz Schoppe und lud mich ein. Da habe ich mich meiner eigenen Familiengeschichte erinnert und bin zur SPD gegangen.  

Karin: Ich kam dann als nächste in den OV. Für mich war Willy Brandt immer wichtig gewesen. Er stand für Aufbruch und das kam mir entgegen, weil ich Mitter der 60er Jahre für die Gleichberechtigung der Frau demonstriert habe. Er war der Funke für meine Entscheidung, der Partei beizutreten. 1972 fand in der Turnhalle in Wolfratshausen eine Kundgebung mit Hans-Jochen Vogel statt und ich erklärte ihm, dass ich in die SPD eintreten möchte. Prompt kam am nächsten Tag die Einladung von Fritz Schoppe.

Konny: Bei mir war es Münchens Oberbürgermeister Thomas Wimmer. Bis 1963 habe ich in München gelebt. Wimmer hatte dort mit den Trümmerfrauen zusammengearbeitet, nach dem Motto „Aus alt mach neu“. Damals bin ich SPD Sympathisant geworden. In Icking habe ich sonntags oft einen Frühschoppen in der alten Post genommen, und da habt ihr SPDler gehockt. Ich habe mir das angehört und bin dann dazugekommen.

Julian: Man hört ja gelegentlich, dass ihr es als SPDler nicht so leicht in Icking hattet. Wie habt ihr es zu spüren bekommen?

Alfred: Ich habe mit dem Eintritt alte Freunde verloren. Bin immer wieder angesprochen worden, du bist doch Jurist und adelig, wie passt das zur SPD? Viele konnten nicht zwischen Person und Sache trennen, das war für mich schlimm. Wenn wir nach einer Sitzung einen trinken gegangen sind, dann hieß es, „Ihr Roten, ihr seid sowieso anders.“ Es gab ein tiefes Misstrauen gegen das „Rote“.

Gerd: Diese Spuren sind auch heute noch anzutreffen, z. B. wenn einem ein renommierter lokaler Amtsträger bei der Aushändigung des Schaukastens sagte‚ „… der brennt schlecht‘. Aber das Ickinger Publikum kann auch anders. Meine Frau und ich haben in Icking sehr schnell sehr feine und zuverlässige Freunde gefunden – und die gehörten auch anders orientierten Parteien an, oder sympathisierten mit ihnen. Eine gepflegte Freundschaft setzt die gegenseitige Toleranz voraus, dass das politisch Andere ebenfalls Bestandteil des politischen Lebens ist.

Alfred: Ich habe gemerkt, dass ich mich ganz offen und ehrlich zu meiner Partei bekennen muss, dann ging es. Schlimmer war es, als ich mein Parteibuch verheimlichen wollte.

Konny: Bei mir hieß es am Anfang: Jetzt ist er in der Politik nichts geworden, jetzt wird er Vorstand vom Gartenbauverein. Ein bestimmter Landwirt ist erst in den Gartenbauverein eingetreten, als er gesehen hat, dass ich auch in die Kirche gehe, doch dann hat er mir sogar das DU angeboten.

Bei der Arbeit, als Postler, war es auch lustig. Zur Uniform gehörten blaue Bundhosen mit Rautenkniestrümpfen, in blau und grau. Die gefielen mir nicht. Meine Nachbarin hatte im Katalog rote Kniestrümpfe gefunden, ich habe gedacht, die nehme ich, damit kann ich in die Berge gehen und sie zur Uniform tragen. Doch ich musste zum Chef, weil der dachte, ich würde mit den roten Strümpfen Parteipolitik betreiben. Jemand hat mir auch mal 2 Mark Trinkgeld gegeben, wenn ich CSU wähle. Ich habe das Trinkgeld genommen, habe aber trotzdem gewählt, was ich wollte.

Gerd: Ich war 1969 noch alleine in Icking und habe da freundliche, aber auch unangenehme Erfahrungen gemacht. Mich haben die Leute im Dorf akzeptiert, weil ich mit ihnen feiern war, aber auch mitanpacken konnte, wenn Not am Mann war. Aber nicht allen konnte ich trauen, ich habe mitbekommen, dass im Rittergütl damals hinter mir hergeätzt wurde, ‚die rote Sau war wieder da.‘ Bei manchen Zeitgenossen, speziell bei den prominenteren CSU-Granden, gewann das Grausen sogar die Oberhand gegenüber der eigentlich vorhandenen menschlichen Zuneigung. Ich war damals in Verhandlung mit einem Grundstückseigentümer. Wir verstanden uns gut, haben gemeinsam das Bierfach seines Kühlschranks geleert, bis ich ihm meine politische Überzeugung gestehen musste. Seine Enttäuschung war erschütternd. Aber er hätte mir verziehen, wenn ich erklärt hätte, dass ich kein ‚Wehnerknecht‘ sei – der stand für Kommunismus – sondern für Helmut Schmid eintrete. Auf diese Trennungslinie innerhalb der SPD habe ich mich nicht eingelassen. Der Grundstückskauf kam nicht zustande.

Karin: In meinem Beruf, damals als Chefsekretärin bei einer mittelständischen Firma, habe ich mich zunächst mit großem Selbstbewusstsein zur SPD bekannt und nicht damit gerechnet, dass die Chefs dies abfällig kommentieren würden, „Wie kann man nur bei der SPD sein?“ und ich dann zur „roten Siebert“ wurde. Danach habe ich es lieber verschwiegen.

Gerd: Du warst angestellt und somit natürlich abhängig von deinem Chef. Das ist eine andere Ausgangsituation, als sie Alfred gerade beschrieben hat.

Karin: Ja, es war schwer, und ich erinnerte mich daran, wie ich zuvor in Dorfen gewohnt hatte. Die Burschen auf den Kieberg haben an Willy Brandt kein gutes Haar gelassen, auch weil er uneheliches Kind war. Das hat wehgetan.

Alfred: Aber nicht ganz Icking dachte so. Die Ostöffnung durch Willy Brandt hat uns auch attraktiv gemacht, sie hat uns die meisten Mitglieder beschert: Wir waren damals 40.

Der OV Icking auf dem Parteitag 1984

Bea: Den alten Protokollen und dem Schaukasten konnte ich entnehmen, dass ihr euch schon damals für das Einheimischenmodell stark gemacht habt, ebenso für einen Dorfmittelpunkt und für eine nicht nur am Auto orientierte Verkehrsgestaltung. Aber was mich auch interessiert: In den 1970ern und 1980ern kam es in Deutschland zu einer neuen Umweltbewegung. Wie standet ihr denn dazu?

Karin: Das war von Anfang an eines unserer wichtigsten Themen. Wir haben uns immer für den Umweltschutz im Großen wie im Kleinen, z. B. für den Baumschutz, für eine sinnvolle Müllentsorgung und für einen am Menschen orientierten Straßenausbau eingesetzt. Uns hatte auch die Anti-Atom-Bewegung nach dem Reaktorunfall in Harrisburg, in Pennsylvania, wachgerufen und zu einem Antrag an den Bundesparteitag gegen den weiteren Ausbau der Kernenergie veranlasst.

Julian: Ihr habt nicht nur zusammen Politik gemacht, sondern auch zusammen Theater gespielt. Dafür seid ihr heute noch bekannt. Wie kam es dazu?

Alfred: Wir haben uns gefragt, was wir machen sollen, um wieder mehr Leute in den OV zu bekommen. Wir suchten etwas Besonderes und haben das den Baumüllers vorgetragen; die hatten ein Laienspieltheater in München. Die „Lokalbahn“ von Ludwig Thoma war unsere spontane Wahl, da geht es auch um einen Gemeinderat und um eine Bahnlinie.

Gerd: Dass wir Zugereisten bayrisch redeten, hat die Bevölkerung in Erstaunen versetzt und wahrscheinlich vor allem belustigt.

Jetzt wird die Diskussion sehr lebhaft, jeder erinnert sich, z. B. daran, „wie Konny in zahlreichen Aufführungen das Publikum zu Begeisterungsstürmen gebracht hat!“ Oder an den berühmten Satz des Brauereibesitzers Schweigel (alias Peter Baumüller) aus der Lokalbahn: „Dös is net klug und weise, dös is net diplomatisch. Auf de Weis ziagt ma si de Sozialdemokraten her.“

Das SPD-Theater ging dann schleichend in das Zelttheater von Mayer-Voigt über.

Alfred: Wir hatten einen starken sozialen Zusammenhalt, gefördert durch private Aktionen in privaten Haushalten. Das gesellige Leben war sehr lebendig.

Theatersketch der Ickinger SPD anlässlich einer Jubiläumsfeier im Rittergütl
Dieter Jung, Franz Moisl, Christiane von Beckerath, Elisabeth Jakobi, Lydia di Bernardo, Hansi Greiner,
Konrad Sedlmeier, Angelika Seifert, Erika Kalix, Peter Kreißlmeier (mit dem Rücken zur Kamera).

Bea: Hinzu kamen die Partnerschaftstreffen. Ihr wart mit einem OV in Essen befreundet und mit einem in Thüringen. Wie ist das entstanden?

Gerd: Ich hatte durch meinen Vetter noch von früher Kontakte zu der Essener SPD. Eines Tages haben wir festgestellt, wie unterschiedlich die Situationen im Ruhrgebiet und im bayerischen Oberland sind und haben beschlossen, uns zu treffen.

Alfred: Die Partnerschaft mit Essen-Gerschede zeigte uns, dass die Welt anders ist, wenn man zur Mehrheitspartei gehört. Da gab es z. B. für Ämter nicht nur einen Kandidaten, sondern mehrere, alle motiviert.

Karin: Nach der Wende haben wir uns entschieden, einen OV in der ehemaligen DDR zu suchen, um den Osten besser kennenzulernen, um zu erfahren, wie diese Menschen denken. 

Gerd: Das Treffen mit den Suhlern in Thüringen, die als sozusagen ‚Neugeborene‘ auf die etablierten Vertreter der Partei trafen, war ein ganz besonderes Erlebnis. Die waren nicht so eingefahren, die waren lebhaft und neugierig, und wir Ickinger waren es auch. Zu politischen Inhalten hatten wir auch sehr wohl andere Ansichten. Dieser Gedankenaustausch war sehr wertvoll.  

Bea: Es ist so viel von gemeinsamen Erlebnissen die Rede, die euch zusammengehalten haben. Ich könnte es mir aktuell gar nicht vorstellen, dass wir genügend Aktive zusammenbekommen, um nach Suhl oder Essen zu fahren. Wie schätzt ihr das ein, ist das zu wiederholen?

Karin: Ich glaube nicht. Der Zusammenhalt, so wie wir ihn kannten, ist verschwunden.

Gerd: Da bin ich nicht so pessimistisch, da ginge bestimmt noch was.

Karin: Jede Zeit bringt neue Ideen und neue Menschen zusammen.

Konny: Für mich ist der Zusammenhalt im Verein immer noch sehr wichtig. Früher war es so, wenn ich in einen Verein eintrete, dann gehöre ich dazu und trete nicht mehr aus.

Alfred: Die enge Zusammenarbeit ist typisch für die Kriegsgeneration. Der Krieg hat uns geprägt, und danach war es ein gemeinsamer Neubeginn. Ein Erwachen. Aber ihr, Julian und Beatrice, ihr fragt die Falschen, ihr müsst euren eigenen Weg finden, die Welt ist eine andere als damals, als wir politisch aktiv waren.

Bea: Wenn wir uns neu erfinden müssen, was bleibt dann von der alten SPD?

Gerd: Auf jeden Fall bleibt das gemeinsame Nachdenken, für das du jetzt das neue Modul der Denkwerkstatt etabliert hast. Aber eins ist sicher, an den Werten, die damals bei der ‚alten SPD‘ galten, gibt es kein Rütteln. Doch wir müssen erkennen lernen, dass sich die Welt um uns herum gewaltig verändert und neue Herausforderungen auch neue Antworten verlangen.

Alfred: Ihr müsst diskutieren, was verbindet euch in der SPD? Was ist das Gemeinsame? Ihr sollt stärker wissen, was im kleinen Kreis von Mitgliedern politisch abgeht. Was ist euch wichtig in der Werteordnung? Etwa die Umwelt: Damals war es noch nicht so wichtig, denn wir wussten nicht so viel davon, wie die Umweltzerstörung einmal lebensbedrohlich werden kann.

Gerd: Die neuen politisch Aktiven sind bei Fridays for Future.

Karin: Die Klientel der SPD gibt es immer noch. Es sind diejenigen, die heute die prekären Arbeiten in vielen Sparten machen.

Julian: Und die Handwerker. Für die könnten wir ganz konkret in Icking etwas machen. Wir sollten uns wieder öffnen, eine große Ickinger Runde einberufen, um mit politisch Interessierten über Gemeindepolitik zu reden.

Bea: Ein guter Vorschlag für die Zukunft. Damit wollen wir unseren heutigen Blick in die Vergangenheit beenden. Ich bin der festen Überzeugung: Der Blick auf die Bilder der eigenen Vergangenheit ist identitätsstiftend. Und mit einer gefestigten Identität lässt sich mit Kraft und Selbstbewusstsein in die Zukunft schauen. Dies gilt fürs Persönliche genauso wie für einen Ortsverein. Deswegen danke ich euch ganz besonders herzlich für alles!

Von Dr. Beatrice Wagner

(Und als bekennende Tatort-Süchtige fragt sie sich, ob – auf den Monat genau – 50 Jahre SPD Icking und 50 Jahre Tatort ARD irgendetwas miteinander verbindet? Vielleicht die Hoffnung, dass die Gerechtigkeit am Ende doch siegt?)